Foto: Mario Wezel
Meine Freundin bei den Toten
Jules erste Tote war eine Schriftstellerin, die in ihrem Brautkleid begraben werden wollte. Den glücklichsten Tag des Lebens in die Ewigkeit mitzunehmen, das war die Idee. Aber die Schriftstellerin trug bei der Hochzeit noch Kleidergröße 36. Am Ende ihres Lebens war sie eine Frau mit Größe 46, und jetzt musste Jule darüber entscheiden, was die Tote anzog, wie für einen letzten Auftritt.
Am Schluss schnitt sie das Brautkleid am Rücken auf, damit es von vorne passte, zog es der Schriftstellerin an und bettete sie in den Sarg. „Von vorne perfekt“, sagt Jule.
Als Jule in heiligem Ernst davon erzählt, sitzt sie in einer Kneipe in einem der alten Fachwerkhäuser in Leonberg bei Stuttgart und kann im nächsten Moment noch immer so heftig lachen, dass sich fremde Menschen nach ihr umdrehen. Unser Abiturtreffen hat begonnen, es ist der Oktober des vergangenen Jahres. Julia Fuchs, die wir früher Jule nannten, sitzt zwischen all den Ärzten, Rechtsanwälten und Werbemenschen, die aus unserer Schulklasse hervorgegangen sind, klimpert wie früher mit ihren Rehaugen und sieht sich um. Da ist die Physikerin, schwanger mit dem dritten Kind, die sich dafür rechtfertigt, dass sie nicht arbeitet. Die Meditationstrainerin, die mit ihrem Freund ein 15-Zimmer-Haus am Ammersee bewohnt und ihr Glück gern teilt. Der Gerichtsmediziner, in dessen Garage drei teure Sportwagen stehen und der sich nach jeder menschlichen Berührung am liebsten die Hände desinfizieren will.
Jule schiebt sich ab und zu eine Gabel mit schwäbischem Rollbraten in den Mund und hört zu. Als Jugendliche konnte sie in den Spagat rutschen, als wären ihre Sehnen weich gekochte Nudeln, sie war gut in Kunst und hasste Französisch. Als sie unser Gymnasium verließ, träumte sie von einem Leben beim Musical, den ganz großen Gefühlen.
Erschienen in DIE ZEIT, 7. Juni 2018.