Von Carolin Pirich
14. Dezember 2016 DIE ZEIT Nr. 49/2016, 24. November 2016
Besuch beim Onkel in der Wohnung. Vielleicht das letzte Mal, dass ich ihn besuchen kann. Er hat Nierenkrebs, fortgeschritten. Es ist Mittag. Auf dem Tisch steht eine Schüssel mit dampfenden Nudeln und scharfer Bolognese.
Ich: Guten Appetit!
Er: (beäugt den Teller, legt die Gabel weg)
Ich: Du isst nicht?
Er: (schiebt den Teller weg) Ein bisschen wird wohl gehen.
Ich: Ich kenn dich nur so, dass es dir schmeckt.
Er: Ich hab 50 Kilo abgenommen. Dass das auf einmal geht!
Ich: Die anderen haben gesagt, ich soll nicht erschrecken, wenn ich dich sehe. Steht dir aber! Siehst aus wie ein Asket. Obwohl 50 Kilo in vier Monaten schon krass sind.
Er: Deshalb lasse ich eine der Tabletten weg.
Ich: Was?! Die soll den Tumor eindämmen!
Er: Die verleidet einem alles. Sogar das Essen.
Ich: Aber der Tumor soll nicht wachsen!
Er: Kleiner wird er so oder so nicht.
Ich lege auch die Gabel weg. Gieße uns Wasser nach.
Er: Bis zu meinem Geburtstag sind es noch sechs Wochen.
Ich: Willst du feiern? Es kommen bestimmt alle.
Er: (gelassen) Vielleicht feiert ihr ohne mich.
Schweigen, einige lange Minuten.
Ich: Hast du Angst?
Er: Vor dem Tod? Nein.
Ich: Hast du eine Ahnung, was kommt?
Er: Das weiß ich nicht. Ich weiß aber, was war. Ich hatte ein volles Leben.
Ich: Was willst du unbedingt noch tun?
Er: Mehr Musik hören.
Ich: Oder gibt es vielleicht jemanden, den du noch einmal treffen musst?
Er: Während man lebt, schiebt man auf. Dann ist vielleicht nichts so dringend. Aber ich war nie so gut darin, Kontakt zu halten. Ich hätte ein besserer Onkel sein können.
Ich: Du bist ein guter Onkel.
Wir stehen auf. Er setzt sich auf seinen Sessel, stellt die Lehne nach hinten. Legt die Beine hoch.
Er: Mach mal den Schrank auf, da ist so ein Fläschchen drin, eine Möbelpolitur. Probier mal, das hier wegzubekommen …
Er deutet auf ein Beistelltischchen. Wasserränder überlagern sich wie die olympischen Ringe. Ich finde ein Tuch und reibe mit heiligem Ernst die Flüssigkeit ins Holz. Die Ringe verschwinden sofort.
Er: Das ist das beste Zeug überhaupt.
Ich betrachte die Flasche intensiv. Sachliches Etikett.
Er: Leg dich doch auch ein bisschen hin, auf die Bank, wenn du willst. Nimm die lila Decke, die ist weich.
Er schläft ein. Ich wohl auch. Nach einer Weile:
Er: Ich habe doch vor etwas Angst.
Ich: Wovor?
Er: Vor den Schmerzen. Bis es so weit ist.
Ein paar Wochen später, im Hospiz. Der Onkel isst nichts.
Lebensgefährtin: Ich kann das nicht ertragen! Er verschwindet!
Tochter 1: Es ist sein freier Wille.
Tochter 2: Er ist bei klarem Verstand.
Tochter 3: Es ist friedlich, mit ihm zu sprechen.
Tochter 2: Die meiste Zeit sagt er nichts. Er hört Mozart.
Zehn Tage später, die Beerdigung. Mein vier Jahre alter Sohn steht zwischen all den Beinen in schwarzen Hosen, drückt die Rosenblätter in der Hand zusammen, löst sie wieder, riecht daran. Als er an der Reihe ist, lässt er sie ins Grab rieseln und fegt sorgfältig alle Blätter, die danebengegangen sind, mit den Händen hinterher.
Der Vierjährige: Was macht der Onkel jetzt?
Ich: Er ist gestorben. Deshalb sind wir alle gekommen. Um ihn zu verabschieden.
Der Vierjährige: Wo geht er hin?
Ich: Er muss nirgends mehr hingehen.
Der Vierjährige: In den Himmel?
Ich: Hm. Vielleicht. Manche glauben fest daran.
Der Vierjährige: (kneift die Augen zusammen, schaut in die Wolken) Hat der Onkel Flügel?
Ich: Es ist schön, sich das vorzustellen, aber …
Der Vierjährige: Wenn er Flügel hat, kann er auch wieder hierherfliegen!
Ich: Wenn jemand gestorben ist, kommt er nicht mehr zurück.
Der Vierjährige: (überlegt) Will er das nicht?
Ich: Na ja, es ist nicht so, dass er das unbedingt entscheidet. Aber wir reden ja über ihn, und so lebt er in unserer Erinnerung …
Der Vierjährige: Ist er dann weniger tot?
Ich: Nein, daran kann man leider nichts ändern. Wenn ein Mensch gestorben ist, ist er tot. Aber wir können ein bisschen an ihn denken, dann ist er nicht ganz weg.
Der Vierjährige: Und wenn wir viel an ihn denken, ist er dann wieder da?