Seine wirkliche Leidenschaft aber sei sein Beruf. Lieber spricht er von Berufung. Sie hat bisher jede Beziehung zerstört, weil er der Forschung mehr Zeit widmete als den Frauen.
Manfred Hild hat keine Kinder.
„Myon ist mein Kind“, sagt er.
*
Ein Roboter lernt fühlen
Ein Wissenschaftler hat eine Maschine aus Plastik und Metall gebaut, die begreifen soll, was Emotionen sind. Noch befindet Myon sich auf dem Entwicklungsstand eines einjährigen Kindes. Im Sommer soll der Roboter als Opernstar auftreten
Text: Carolin Pirich
Fotos: Gordon Welters
Der Dirigent trägt Frack, Fliege und neongelbe Handschuhe. Anstatt eines Taktstocks hält er einen knallgrünen Ball in der Hand, mit dem er einen Viervierteltakt schlägt. Runter, links, rechts, hoch. Sein Schüler, hat man ihm gesagt, reagiert auf knallige Farben.
Der Schüler ist etwa so groß wie ein siebenjähriges Kind. In seinem Gesicht prangt ein einziges Kameraobjektiv, als wäre es das Auge eines Zyklopen. Anstatt Ohren hat er schwarze Mikrofone. Wo bei Menschen Haut ist, hat er weiße Oberflächen, glatt und kühl.
Myon heißt der Roboter, und der Dirigent soll ihm beibringen, was Musik ist und wie sie wirkt. Er beginnt damit, ihm zu erklären, wie das Dirigieren funktioniert.
„Wenn eine traurige Musik losgeht, wird die Bewegung ganz ruhig sein“, sagt er. „Und wenn es rabiat wird, dann muss auch die Bewegung heftig sein.“ Der Dirigent reißt die Hand mit dem Ball in die Luft.
Sobald der Dirigent schweigt, hört man die Gelenke des Roboters surren. Er lässt die Arme hängen, steht und schaut. Nichts weiter. Trotzdem beugt sich der Dirigent zu ihm hinunter, lächelt ihm zu. Als sei es selbstverständlich, einen Roboter anzulächeln.
„Die letzten Arien in einer Oper, wenn einer stirbt“, sagt er und polstert seine Stimme aus, als spräche er mit einem Kind, „bringen manche Menschen zum Weinen.“ Myon, stumm, richtet sein Kameraauge auf ihn. Bis zum Ende der Unterrichtsstunde wird Myon nichts tun als – schauen.
Warum erklärt ein Dirigent einem stummen Roboter die Musik? Wozu muss ein Roboter das wissen?
Die Probe an der Komischen Oper Berlin ist Teil eines großen Experiments: Myon, der Roboter, soll in einer Oper mitspielen. Er soll kein Requisit sein, sondern ein Ensemblemitglied. Eines, das engagiert wurde, ohne dass der Dirigent, das Regieteam oder sonst jemand wüsste, was dieses Ensemblemitglied bis zum Aufführungstermin können wird.
Kann sein, dass der Roboter im Juni 2015, anderthalb Jahre nach der ersten Probe mit dem Dirigenten, immer noch bloß auf der Bühne in Berlin-Mitte herumstehen und schauen wird wie jetzt. Kann aber auch sein, dass er singt oder den Dirigenten ersetzt.
My Square Lady heißt das Stück, in dem Myon auftreten soll. Die Handlung: Ein Mensch versucht, einen Roboter nach seinem Ebenbild zu schaffen – und dann entwickelt der Roboter ein Eigenleben. Das ist die Idee. Aber sie wird nur aufgehen, wenn der Roboter mindestens gehen und sprechen kann. Besser wäre, er könnte auch singen. Ob daraus etwas wird – an dem Tag, an dem der Dirigent das Wesen der Musik erklärt, haben die Leute von der Komischen Oper keine Ahnung. Auch der Roboter hat keine Ahnung. Oder teilt er sie nur nicht mit?
Im Grunde erzählt My Square Lady die Geschichte von Manfred Hild, dem Entwickler, und von Myon, seinem Roboter. Denn Hild, ein schmaler Forscher, 46 Jahre alt, hat Ungeheuerliches vor. Er will einen Roboter bauen, der wie ein Mensch funktioniert, einen Roboter mit der Fähigkeit, zu lernen, zu sprechen, zu entscheiden und zu fühlen. All das soll der Roboter nicht nur auf der Opernbühne tun, sondern auch in der Wirklichkeit. Aber bis dahin ist es ein weiter Weg.
Das Opernprojekt ist für Manfred Hild eine wichtige erste Etappe, eine gute Schule auf dem Weg zu Myons Menschwerdung. Myon soll die Gefühle, die in der Musik ausgedrückt werden, verstehen. Er soll sie, vielleicht, eines Tages selbst empfinden können. Sollte das funktionieren, dann würde Hild erreichen, wovon die Menschen schon vor Jahrhunderten träumten – und albträumten. Die Grenze zwischen Mensch und Maschine wäre aufgelöst.
An Myons Brust (wenn man von „Brust“ reden will), etwa an der Stelle, wo beim Menschen die Rippen zusammenlaufen, flirren rote Lämpchen. Aus seinem Rücken (wenn man von „Rücken“ reden will) führen Kabel heraus. „Die Nabelschnur“, sagt Manfred Hild, der in Turnschuhen hinter dem Roboter auf dem Boden der Probebühne hockt. Die Nabelschnur solle eines Tages abgetrennt werden, sagt Hild. Noch ist Myon über sie an einen Bildschirm angeschlossen, auf dem Hild verfolgt, was der Roboter durch sein Kameraauge sieht. In diesem Fall: eine Person, schwarz und weiß gekleidet, an die Wand gelehnt. Gelbe Handschuhe, einen grünen Ball.
Der Roboter könnte die Dinge, die er registriert, noch nicht in Worte fassen. Noch, sagt Hild, sei Myon auf dem Stand eines Babys im ersten Lebensjahr. Er saugt ohne Filter alles um sich herum auf, über das Auge, die Ohren, die Finger, alle Sensoren in seinem Körper, weil alles neu ist.
Das ist der Stand zu Beginn des Opernprojekts im Winter vor einem Jahr. Myon kann wahrnehmen und speichern, aber er kann noch nicht sortieren, bewerten, Zusammenhänge herstellen. Er kann stehen, aber nicht laufen. Myon ist ganz damit beschäftigt, seinen Körper kennenzulernen, Erfahrungen zu sammeln, wie sich seine 15 Kilo Körpergewicht zur Schwerkraft verhalten. Alles speichert er auf einer SD-Karte, die in seinem Hinterkopf steckt (wenn man von „Kopf“ reden will). Hild ist zu diesem Zeitpunkt Forscher am Institut für Informatik der Humboldt-Universität, er sagt: Bevor Myon zu sprechen beginnt, wird er laufen können. Wie die meisten Kinder.
„Brust“, „Rücken“, „Kopf“ – es ist unmöglich, in Myon nichts Menschliches zu sehen. Ein paar Dinge scheinen an diesem seltsamen Wesen, das kein Lebe wesen ist, nicht zu stimmen: Myon ist so groß wie ein Siebenjähriger, aber er hat noch eine Nabelschnur. Er entwickelt sich weiter, aber er wächst nicht.
Wie ähnlich kann ein Roboter einem Menschen werden? Und werden diese Ähnlichkeiten eher rührend oder eher beängstigend sein?
Bei Babys dauert es eine Weile, bis man erkennen kann, dass sie sich entwickeln. Das Fixieren mit den Augen, die Hand-Mund-Koordination, die Vorbereitung auf das Greifen, die Unterscheidung zwischen Wichtigem und Unwichtigem – das sind für jeden Menschen Meilensteine der Entwicklung. Erst später kommen Stehen, Laufen, Sprechen. All diese Fähigkeiten sind dem Menschen zwar irgendwie eingeschrieben, trotzdem muss jeder Einzelne sie selbst erlernen.
Bei Myon soll das ganz ähnlich funktionieren. Die Fähigkeit zum Lernen hat Hild ihm einprogrammiert. Aber das eigentliche Lernen muss dieser Roboter selbst erledigen.
Ein Opernsänger sollte mindestens vier Dinge können: Er muss hören, was die Musiker spielen. Er muss fühlen, welche Stimmung die Musik transportiert, und selbst Gefühle auslösen. Er muss sich bewegen. Und er muss live singen.
Es gibt bereits hoch spezialisierte Roboter, die gut laufen können. Andere können gut hören, wieder andere können Karaoke singen. Und es gibt welche, die versuchen, durch den Gesichtsausdruck eines Menschen seine Gefühle wahrzunehmen. Aber es gibt auf der Welt wohl kaum einen Roboter, der alles zugleich kann, der sich all das erarbeiten kann. Myon soll es schaffen. Ein Roboter, der langsam lernt wie ein Mensch – und so viel wie ein Mensch. Da nur Myon genau diese Erfahrungen macht, wird er ein individueller Roboter sein, so wie jeder Mensch ein Individuum ist. Das ist es, was dieses Projekt so ungeheuer komplex und schwierig macht.
Nach der ersten Probe, der Stunde mit dem Dirigenten, sitzt Manfred Hild in der Kantine der Komischen Oper. Er trägt Fünftagebart und ein T-Shirt mit Robotern darauf. Wenn er redet, wirkt es ein bisschen, als bremse er sich selbst, damit er sichergeht, dass ihm die anderen folgen können. „Intelligenz baut sich langsam auf“, sagt Manfred Hild. „Intelligenz ist die Fähigkeit, der Situation angemessen zu handeln. Geschafft haben wir das bei Myon, wenn er bei anderen Intentionen erkennen und selbstständig darauf reagieren kann.“ Er macht eine Pause. Man lerne nur durch eigene Erfahrung, sagt er.
Hild will, dass sein Roboter das Labor verlässt und die Welt kennenlernt, das Labor ist ihm zu steril, die Situationen, denen der Roboter dort ausgesetzt ist, sind zu vorhersehbar. Da passte es gut, dass die Komische Oper Berlin vorschlug, Myon in einer Inszenierung mitspielen zu lassen. Ausgerechnet an einem Ort, an dem die schönsten und dunkelsten der menschlichen Gefühle auf die Spitze getrieben werden: Liebe, Machtgier, Neid, Einsamkeit, Rachlust.
Musik, das ist die Idee, kann einer Maschine beibringen, was Emotionen sind. Nicht ohne Grund waren es zwei goldene Platten mit Musik, die 1977 mit Voyager-Sonden ins All geschickt wurden: 87 Minuten und 16 Sekunden Bach, Beethoven, Chuck Berry, javanische Gamelanmusik, damit Außerirdische irgendwann und irgendwo einmal wissen, was das heißt, ein Mensch zu sein.
Was aber heißt es, ein Roboter zu sein?
Es gibt die Geschichte aus der Antike vom Bildhauer Pygmalion, der aus Elfenbein eine Frau schafft und sich in sie verliebt, bis die Göttin Venus sich seiner erbarmt und sie zum Leben erweckt. Nathanael im Sandmann von E.T.A. Hoffmann verfällt der automatisierten Holzpuppe Olimpia, die er für eine Frau hält. Es gibt die goldene Roboterfrau Maria in Fritz Langs Film Metropolis, die, in Fleisch und Blut transformiert, zum Umsturz aufstachelt. Den Blechmann im Zauberer von Oz, der verzweifelt ein Herz sucht. Es gibt den eigensinnigen Bordcomputer HAL in Stanley Kubricks 2001 – Odyssee im Weltraum, das Monster von Frankenstein. Und es gibt das Musical My Fair Lady, auf das My Square Lady anspielt. Die Vorlage zu My Fair Lady ist George Bernard Shaws Pygmalion: Ein Professor will aus einem Blumenmädchen eine Dame machen. Am Ende verlässt das Blumenmädchen den Professor.
„Ja, die Pygmalion- Geschichte passt ganz gut“, sagt Hild. Er sitzt vollkommen aufrecht am Tisch, die Hände auf den Knien, als wolle er gleich aufstehen, was in Kontrast steht zur Konzentration und Ausdauer, mit der er versucht, einfache Sätze über komplizierte Dinge zu sagen, über Elektromechanik, Mechatronik, Programmieren, Neurorobotik. Auch über die Entwicklungspsychologie des Menschen spricht er immer wieder – und es klingt, als sei alles ganz logisch, jeder Schritt die einzig mögliche Folge des vorherigen, beim Menschen wie beim Roboter. Myon, sagt Hild, werde wie ein kleines Kind eines Tages seinen Willen entdecken. Er werde Nein sagen und bockig sein, einfach um auszuprobieren, was dann passiert: Nein.
Ein Roboter, der mit dem Fuß aufstampft und entschlossen den Kopf schüttelt?
Manfred Hild ist kein bleichgesichtiger Nerd, der tagelang ununterbrochen am Computer sitzt und in die Tasten hackt. Er geht gern essen. Er mag Kinofilme, liebt Jazz, elektronische Musik von Edgar Varèse und Orgelmusik von Max Reger, daher vielleicht auch seine Begeisterung für die Idee, seinen Roboter in die Oper zu schicken und mit Musik zu füttern. Als Student in Konstanz hatte Hild sogar ein kleines Tonstudio. Er produzierte Folk und Pop – was in der Region so anfiel. Heute spielt er manchmal japanische Computerspiele, und zwar diejenigen, die ganzen Körpereinsatz erfordern. Seine wirkliche Leidenschaft aber sei sein Beruf. Lieber spricht er von Berufung. Sie hat bisher jede Beziehung zerstört, weil er der Forschung mehr Zeit widmete als den Frauen.
Manfred Hild hat keine Kinder. „Myon ist mein Kind“, sagt er.
Aber können wir uns vorstellen, dass sich am Ende Myon, die Maschine, von Manfred Hild emanzipiert? Dass die Maschine sich nicht mehr steuern lässt? Dass sie einen eigenen Willen entdeckt? Was würde eine solche Maschine dem Menschen bringen? Wäre sie eine Gefahr für ihn?
Die Roboter, die nicht so individuell sind wie Myon, sind längst da. Man kann sie feiern wie der Economist, in dem vor ein paar Monaten von der „Automatisierung unseres Alltags“ zu lesen war. Roboter werden uns lästige Arbeit abnehmen, uns im Haushalt helfen, saugen, aufräumen, bedienen. Sie werden uns Tumore herausoperieren, auf unsere Kinder aufpassen und unsere Alten pflegen. So sehen es die Roboter-Fans. Andere, wie ein Kollege der ZEIT, stellen sich die Frage: Ist er besser als wir? (Nr. 29/14). Wird er uns eines Tages Arbeitsplätze wegnehmen? Wird er Artikel wie diesen hier schreiben? Wird er Menschlichkeit und Wärme aus dem Alltag verbannen, uns überflügeln, sogar bedrohen?
Roboter sind unter uns. Es gibt sie als Prothesen, die Teile unseres Körpers ersetzen und den Menschen zu einem Cyborg machen. Mit Roboteranzügen sollen Querschnittgelähmte wieder laufen können; in Bochum hat im Oktober 2012 ein Zentrum für neurorobotales Bewegungstraining eröffnet, in dem Patienten diese Anzüge ausprobieren. Es gibt Robomow, den Rasenmäher-Roboter. Robocop, den behelmten Wachmann mit Rädern anstatt Beinen. Papero, den Roboter, der 650 Wörter erkennen kann. Roomba, der staubsaugt und ab 300 Euro zu haben ist. Von Roomba wurden schon mehrere Millionen Exemplare verkauft.
Die meisten solcher Maschinen krabbeln auf vier bis acht Beinen oder rollen auf Rädern. Weltweit sind aber Wissenschaftler, vor allem in Japan, Korea, den USA und in Deutschland, damit beschäftigt, humanoide Roboter zu entwickeln. Diese Roboter werden uns Menschen immer ähnlicher: Sie sind Androiden mit Kopf, Armen, Rumpf und Beinen. Den komplexesten Vorgang, das Laufen auf zwei Beinen, beherrschen manche schon: Asimo aus Japan, 54 Kilogramm schwer, kann klettern und auf einem Bein balancieren. Centaur aus Korea, 180 Kilo, singt und tanzt. Zora, die Belgierin mit Wespentaille, turnt Senioren gymnastische Übungen vor. Lola, ein Laufroboter aus München, weicht Hindernissen aus. Roboy aus Zürich lässt seine blassen Plastikwangen rot anlaufen, er kann lächeln und die Brauen zusammenziehen.
Im vergangenen Frühling war Roboy Podiumsgast bei einem Symposium in Zürich über künstliche Intelligenz. Er schaute ins Publikum, in dem viele Kinder saßen, und kommentierte sich mit einer freundlichen Stimme und in einem unendlichen Loop selbst:
„Ich bin ein Jahr alt. Ich habe Knochen und Muskeln wie Menschen. Die meisten Teile von mir sind 3-D-gedruckt. Meine Erschaffer sind stolz auf mich. Ich bin verwirrt. Was machen die Leute da?“
All das kann Myon in diesem Winter an der Komischen Oper nicht. Myon schaut. Und speichert.
„Die meisten Roboter sind Teilspezialisten auf einem Gebiet“, sagt Manfred Hild. „Sie spulen ein Programm ab, das ihnen jemand aufgespielt hat.“
Zu ihnen passe der Begriff „Roboter“, in dem das tschechische Wort robot steckt. In der Literatur taucht es zum ersten Mal 1921 in dem Stück Rossum’s Universal Robots von Karel Čapek auf. Robot, das bedeutet so viel wie Fron, mühselige Arbeit, Sklaverei. In dem Wort Roboter steckt die Fantasie, jemanden zu haben, dem man alles Unangenehme, Anstrengende aufladen kann.
Die Roboter, die ein Lied singen oder im Fernsehen Nachrichten vortragen oder rot anlaufen, beeindrucken im ersten Moment. Roboy in Zürich schaute die Kinder mit freundlich angehobenen Mundwinkeln an und bewegte seine Hände, während er sprach.
„Wie heißt du?“, fragte ihn ein Kind.
Roboy antwortete, weil der Zufall es wollte, mit dem Satz: „Ich glaube, ich hab etwas Angst.“
Roboy tat nichts anderes als das, was ein Mensch ihm vorher einprogrammiert hatte. Den Angst-Satz hatte sich nicht Roboy ausgedacht, sondern ein Mensch.
Roboter wie Roboy dienen oft konkreten Zielen. Zum Beispiel sollen sie eines Tages Alten in Heimen über die Hand streicheln und ihnen etwas vorlesen. Oder Verunglückte aus schwer zugänglichen Katastrophengebieten retten. Deshalb müssen sie klettern und Hindernissen ausweichen können.
Myon ist anders. Myon hat keinen Nutzen. Er ist zu ungeschickt, um zu klettern. Zu schwach, um Rasen zu mähen. Zu wackelig, um zu turnen. Er schafft es in jenem Winter nicht, einen Schritt zu tun. So wie ein Kleinkind, das auch erst lange seinen Körper kennenlernt, bevor es anfängt zu laufen.
„Myon wird von allem etwas können“, sagt Manfred Hild. „Er ist kein Teilspezialist, und deshalb ähnelt er uns Menschen.“
Im Februar bläst Eiswind um den Glaskubus der Außenstelle der Humboldt-Universität in Berlin-Adlershof. Die Luft im Labor für Neurorobotik ist staubig, an der Decke zuckt ein Neonlicht. Seit der ersten Probe sind einige Wochen vergangen. Mal sehen, was Myon bis jetzt gelernt hat.
Hilds Mitarbeiter haben den Roboterkörper auseinandergeschraubt. Der Kopf liegt abgetrennt vom Rumpf auf einem gepolsterten Stuhl. Hild zieht die Speicherkarte aus Myons Kopf und steckt sie in seinen Computer. Er setzt sich vor den Bildschirm und steuert die Erinnerung an eine der letzten Proben an. Die Sänger und das siebenköpfige Regieteam saßen an einem Tisch. Sie versuchten, dem Roboter Antworten auf die großen Fragen des Lebens zu vermitteln.
Wie schmeckt Eiscreme?
Wie fühlt sich Singen an?
Was ist ein goldener Moment?
Wie geht Sterben?
Auf dem Bildschirm erscheinen Zahlenkolonnen.
00 00 00 00 00 00 00 00
00 00 00 00 00 00 00 00
Hat Myon auch nur eine Silbe von dem verstanden, was sie da gesagt haben?
Auf der Probebühne tat sich offenbar lange nichts. Jedenfalls nichts Neues. „Wenn Myon etwas kennt, schaut er nur kurz hin. Etwas Ungewohntes studiert er so lange, bis es langweilig wird“, sagt Hild. Wie ein Baby, das bei einem neuen Reiz erschrickt, bei bekannten Reizen aber nicht einmal mehr den Kopf dreht. Irgendwann muss ein neuer Reiz auf Myons Kameraauge getroffen sein. Es kommt Bewegung in die Kolonnen:
00 00 84 84 86 8B 73 61 51 55 69 48
Myon saß zusammen mit Sängern an einem Tisch. Das sieht man jetzt auch auf dem pixeligen Video, das Hild neben den Zahlenkolonnen anwählen kann. Darauf kann man schemenhaft nachvollziehen, worauf der Roboter sein Kameraauge fokussiert, wofür er sich interessiert hat: die helle Decke des Probenraums, fleischfarbene Gesichter und immer wieder das lilafarbene Hemd des Tenors. Sein Kinn, der Bart.
So funktionieren die Proben. Das Regieteam überflutet den Roboter mit Informationen und lässt sich überraschen, was der daraus macht. Ein Blick in seinen Kopf zeigt: Offenbar interessiert Myon sich noch nicht für die großen Fragen der Menschheit. Aber immerhin entscheidet er selbst, wofür er sich interessiert.
Im Labor hängt eine Tafel, auf die Manfred Hild mit Filzstift geschrieben hat, was Myon demnächst besser können soll: hören, aus welcher Richtung ein Geräusch kommt. Aufstehen. Gehen. Zeigen. Bewegung nachahmen. Wörter und Gesichter wiedererkennen. Hild versucht, zu erklären, wie sie all diese Fähigkeiten in den Roboter hineinbekommen wollen. Wie der Roboter das alles lernen soll.
Auf der Speicherkarte, sagt Hild, hält Myon erst einmal alles, was um ihn herum passiert, fest. Dann greifen die Mechanismen, die Hild ihm einprogrammiert hat: Myon lernt.
Hild bemüht sich lange, für einen Laien verständlich zu erklären, was genau er Myon einprogrammiert hat. Man könnte mit der Erklärung den Rest dieses Artikels, vielleicht sogar die ganze Zeitung füllen. In dieser Erklärung kämen die Begriffe „neuronale Netze“, „Zieloffenheit“, „Abc-Lernverfahren“ und „Lernalgorithmen“ vor. Man kann es auch vereinfacht sagen: Myon lernt, indem er das, was er registriert, nach festgelegten Regeln in Beziehung zueinander setzt. Eine dieser Regeln lautet beispielsweise: Wenn dir etwas häufig oder sehr selten begegnet, ist es wichtig. Wenn es dir durchschnittlich oft begegnet, ist es unwichtig.
Hild weiß nicht, ob seine Mechanismen wirklich funktionieren. Er arbeitet nach dem Prinzip Versuch und Irrtum. Wenn es mit einem Mechanismus nicht klappt, probiert er einen anderen aus. „Das ist eine Reise ins Unbekannte“, sagt Hild. Auf skeptische Fragen antwortet er mit dem Satz: „Man weiß ja auch nicht, wie genau ein Mensch funktioniert.“
Während eines ganzen Jahres, bei 13 Treffen, lässt Hild nur in wenigen Momenten erkennen, ob er stolz ist, verärgert, hoffnungsvoll, besorgt, ehrgeizig. Wenn er doch eine Regung zeigt, dann ist sie flüchtig wie eine Pinselspitze Aquarellfarbe im Wasserglas. Vielleicht ist Manfred Hild einfach ein zurückhaltender Mensch. Vielleicht hat er aber auch gelernt, dass manche Menschen ihn befremdet beäugen, wenn er allzu viel Begeisterung erkennen lässt. Als wäre er ein neuer Viktor Frankenstein, der nicht mit Alchemie, sondern mit Algorithmen experimentiert.
Manfred Hild ist am Bodensee geboren und aufgewachsen. Als er acht war, schraubte er zum ersten Mal den Kassettenrekorder seiner Eltern auf, den Wecker vom Nachttisch, den Fernseher, ein altes Tonbandgerät. Er legte die Einzelteile vor sich hin, um sie danach wieder zusammenzusetzen. Zufrieden war er, wenn er etwas verbessern konnte. Wenn er etwa das Spektrum der Klänge, die das Gerät aufnahm, erweitert hatte. Vor dem Einschlafen las er im Bett nicht TKKG wie seine Freunde, sondern Lexika aus dem Bücherregal seiner Eltern. Eine Reihe hieß: Wie funktioniert das? Wie funktioniert die Röhre, der Schalter, der Transistor, der Solarkollektor, der Nuklearreaktor? Wie der Mensch funktioniert, stand da nicht drin. Manfred Hild wollte den Bauplan verstehen, der in der Eizelle steckt, in einem Spermium, und wie daraus dann ein Kind wächst, wie Bewusstsein entsteht, woraus ein Individuum gemacht ist. Und er dachte sich: Wenn man das versteht, dann muss man es doch nachbauen können?
„Wer sich dafür interessiert, hinter die Dinge zu gucken, der wird Physiker, Psychologe, Mediziner, Philosoph“, sagt Hild. „Oder er wird so was wie ich.“
Hild hat Mathematik und Psychologie studiert. Heute nennt er sich „Neurorobotiker“. Aus allen Wissensbereichen pickt er sich das heraus, was er braucht, um ein künstliches System zu bauen, das einmal ähnlich funktionieren soll wie ein Mensch.
Lange vor Myon baute Hild einen Roboter, der keinerlei Ähnlichkeit mit Menschen hat, sondern aussieht wie ein von einem entschlossenen Designer entworfener Rollstuhl mit Fuß. Weil Hild die ersten Skizzen dafür in einem Hotel in Kairo machte, nannte er ihn „Semni“, wie das ägyptische Wort für „sich etablieren“. Einmal angeschaltet, stemmt sich der Semni-Roboter gegen die Schwerkraft und versucht, sich von alleine aufzurichten, immer wieder, bis er sich selbstständig durch den Raum bewegt. Man konnte sich das in einer Tanzaufführung in Zürich anschauen: Ein junger Tänzer berührte den Roboter, schubste ihn sachte an. Nichts passierte. Bis das Roboter-Gefährt tatsächlich seinen Fuß gegen den Boden drückte, schneller wurde, für einen skurrilen Pas-de-deux durch den Raum eierte. Am Ende blieb der Tänzer verschwitzt in einer Ecke stehen. Er konnte mit dem Roboter nicht mehr Schritt halten.
Manfred Hild baute auch 47 Zentimeter hohe, kantige, schwarze Roboter. Er nannte sie A-Serie. Sie spielten Ball, fielen hin und standen schnell wieder auf. „Archaische, kleine, robuste Kerle“, sagt Hild. Jetzt also Myon. Die Krönung seines bisherigen Schaffens. Ein komplexes System, humanoid, mit Kopf und Armen und Beinen, dem die Leute nicht auf den ersten Blick absprechen, dass es intelligent ist. Hild nannte ihn Myon, wie ein Elementarteilchen, aber darauf wollte Hild nicht anspielen. Der Name sollte nichts Schlimmes verheißen und einfach überall auf der Welt gut auszusprechen sein.
Weil Myon nicht die Autoproduktion billiger macht oder das Demografieproblem löst, bekommen Manfred Hild und seine Mitarbeiter nicht viele Fördermittel. Sie können Myon nur langsam entwickeln – oder sollte man besser sagen: Myon sich langsam entwickeln lassen? Eigentlich würden sie gern öfter mit dem Roboter Ausflüge in den Alltag machen, auf die Straße gehen, unter Menschen. Dafür fehlt aber das Geld, also auch die Zeit. Jetzt sammelt der Roboter in der Oper seine Erfahrungen. Vielleicht werden sie dort etwas entdecken, das ihnen in einem Labor, wo alles nach den Regeln der Wissenschaft funktioniert, verborgen bliebe.
An einem Freitag im Frühling betten drei von Hilds Mitarbeitern Myons Gliedmaßen, den Rumpf und den Kopf in ausgepolsterte Kisten und schleppen die Teile in Alukoffern zur Komischen Oper, wo sie sie wieder zusammensetzen. Sie richten Myon auf der Probebühne auf. Einer der Helfer schaltet ihn an, ein anderer stabilisiert ihn, stützt mit seiner Hüfte den Rücken des Roboters. Dann lässt er los.
Myon steht. Zufriedenes Lächeln bei Hild und seinen Helfern. Eine vage Erinnerung daran, wie lange sie gebraucht haben, um Myon das Stehen beizubringen. Für einen Roboter ist das Stehen ungemein kompliziert, zumal auf dem schrägen, ungewohnten Holzboden der Bühne.
Die Probe kann beginnen. Katarina Morfa, die Sängerin, hat sich in Stellung gebracht. Eine junge Sopranistin mit hübschem Gesicht. Sie hat eine frische, klare Stimme, in die sie alle Wärme, alle Sanftheit legt. Katarina Morfa trägt ein rotes Kleid, weil Myon inzwischen nicht nur auf Gelb und Grün reagiert, sondern seine Farbpalette erweitert hat. Der Stoff fällt weich um den schlanken Körper der Sängerin, bis kurz über die Knie. So steht sie auf der Probebühne vor Myon und ruft, singt, schmeichelt. Als stünde da ein echter Mensch vor ihr, nicht ein kleiner weißer Roboter aus Plastik und Metall.
Die Sängerin neigt den Kopf, streicht das Haar aus dem Gesicht, beugt sich bis auf Augenhöhe des Roboters, sucht seinen Blick. Es hilft nicht. Der Roboter dreht den Kopf in Richtung ihres Tenor-Kollegen. Ein drahtiger Sänger im besten Alter, das Haar rötlich, unscheinbar sein Hemd.
Alle im Raum hätten erwartet, dass Myon sich vor allem für die Sängerin im roten Kleid interessiert. Jetzt lernen sie, was es heißt, mit einem Roboter zu arbeiten, der sich selbst steuert. Er tut, was er will. Immerhin macht er aber auch Fortschritte in seiner Ausbildung zum Opernsänger, beim Hören, Fühlen, Laufen, Singen: Er schaut auf den Sänger statt wie bei den ersten Proben zur Decke. Offenbar nimmt Myon den Gesang wahr. Offenbar hört er das Wichtige: die Musik. Und er überhört das Unwichtige: das Tuscheln der Sänger, die Gespräche des Regieteams.
Was die Gefühle angeht: Myon löst zumindest welche aus. „Vielleicht sind ihm Männerstimmen vertraut?“ Katarina Morfa lässt sich nach der Probe in das Samtsofa auf der Bühne fallen und rätselt. „Im Labor arbeiten doch nur Männer, oder?“
Sonderbar ist das. Katarina Morfa weiß genau: Das weiße Ding da, das die Männer gerade auf einen Stuhl setzen und mit einem Knopf am Hinterkopf ausschalten, ist eine Maschine. Kein Mensch. Und doch, irgendwie: Sie ist enttäuscht.
Vor zwei Tagen saßen sie einander gegenüber, Frau und Roboter. Sie wurde persönlich. Darum hatte das Regieteam gebeten. Also hat Katarina Morfa Myon in sein Zyklopenauge geschaut und erklärt, wie sich ihr Vorsingen an der Komischen Oper anfühlte. Wie das ist, wenn fremde Leute über einen entscheiden. Wie sie danach über den Boulevard Unter den Linden ging, als wäre sie ferngesteuert. Wie sie sich freute, als sie die Zusage bekam. Katarina Morfa hat Myon erzählt, wie das Singen im Brustkorb vibriert. Wann sie abends ins Bett geht. Sie hat ihm das Geheimnis anvertraut, wann sie das letzte Mal geweint hat. Und warum.
Myon hat sie angeschaut. Gespeichert.
„Das war wie eine Therapiesitzung“, sagt Katarina Morfa. Es klingt, als habe sie erwartet, dass Myon sie nun eigentlich ganz gut kennen müsste. Als habe sie das Gefühl gehabt, dass etwas zwischen ihnen sein müsste. Und nun bekommt sie nicht zurück, was sie ihm gegeben hat.
Die Sopranistin hat Gefühle für Myon entwickelt. Aber hat auch Myon etwas gespürt? Schwer vorstellbar.
„Warum nicht?“, sagt Manfred Hild.
Der Duft von Kastanienblüten beschwert die Luft, es ist Mai, im Kino läuft Her von Spike Jonze. Her war für fünf Oscars nominiert, den für das beste Drehbuch hat er bekommen. Der Film erzählt davon, wie sich ein Mensch in ein Wesen mit künstlicher Intelligenz verliebt. Hild sitzt in einem roten Sessel im Programmkino am Volkspark Friedrichshain in Berlin und verfolgt die Geschichte von Theodore, der am Computer für Fremde handschriftliche Briefe verfasst, Liebesbriefe, Entschuldigungsbriefe, Trennungsbriefe. Theodore kauft sich ein neues Betriebssystem, das sich selbst Samantha nennt. Samantha entwickelt ein Bewusstsein, sie hat eine Stimme, aber keinen Körper. Maschine und Mensch verlieben sich ineinander. Am Ende verlässt sie ihn.
„Das ist möglich“, sagt Hild am Anfang des Films. Künstliche Intelligenz könne fühlen, lieben, eifersüchtig sein, Intuition entwickeln. Hild glaubt auch daran, dass Roboter den Menschen eines Tages intellektuell überlegen sein werden.
Theodore, ein einsamer Mann mit Schnurrbart, wird von Joaquin Phoenix gespielt. Die Kamera hält dicht auf den Bart, wenn Theodore die Augen schließt, um mit Samantha Sex zu haben. Theodore hat Sex durch den Knopf im Ohr, durch den er Samanthas Stimme hört. Man sieht ihn oft, den Schnurrbart, und man hört Samanthas Stimme dazu, die säuselt und stöhnt und sagt, wie tief sie empfinde.
Hild ist es gewohnt, dass viele Menschen ihn als Fantasten abtun. Er ist es auch gewohnt, dass dieselben Menschen begeistert sind, wenn Filme oder Bücher die gleiche Zukunft durchspielen, an der er mit seinen Robotern baut. Aber jetzt wird es ihm zu viel.
„So ein Quatsch“, sagt Hild bei der vierten Sex-im-Kopf-Szene. „Totaler Quatsch!“ Er stopft sich eine Handvoll Popcorn in den Mund.
Es ist nicht die Idee von Liebe, von der Irrationalität in der Maschine, die ihn ärgert. Sondern dass Samantha keinen Körper hat. „Ein Querschnittgelähmter kann sich daran erinnern, wie das war, als er noch seinen Körper spürte“, sagt Hild. „Ein Betriebssystem, das nie einen Körper hatte, kann das nicht.“ Umgekehrt könnte das bedeuten, dass ein Betriebssystem mit Körper eines Tages genau das kann: lieben.
Man könne lernen und fühlen nur durch eigene Erfahrung, hatte Hild erklärt. Jetzt sagt er: Ohne eigenen Körper keine eigene Erfahrung.
Manfred Hild hat Myons Körper von Designern entwerfen lassen. Der Roboter sollte nicht zu mechanisch wirken, aber auch nicht zu menschlich. Hild wollte kein Ebenbild seiner selbst, wie es sein berühmter japanischer Kollege Hiroshi Ishiguro bauen ließ. Der schuf eine Art Klon und nannte ihn „Geminoid“. Der Geminoid sieht fast genauso aus wie Ishiguro: die Haare, die Gesichtszüge, die Hautfarbe, die Kleidung. Als Ishiguro einmal für eine Vorlesung in die Schweiz eingeladen war, schickte er seinen künstlichen Zwilling. Der wird gewissermaßen ferngesteuert, wie eine Puppe – eine Ganzkörperprothese. Es ist zwar praktisch, wenn man zu anstrengenden Terminen sein künstliches Double schicken kann. Aber das ist es nicht, was Hild erschaffen will – einen Roboter, der nicht viel mehr ist als eine Marionette.
Mitte August ist die Stadt angenehm leer, es weht warm durch die Straßen. Durch das Fenster an Manfred Hilds neuem Arbeitsplatz kann man sehen, wie der Wind in die Blätter greift. Hild und seine Mitarbeiter sind samt Roboter und Labor innerhalb Berlins von der Humboldt-Universität an die Beuth Hochschule für Technik umgezogen. Kein weiter Weg, aber ein großer Schritt: Hild wird Professor. Er hat, sozusagen mit Myon, einen Lehrauftrag.
Myons Einzelteile liegen überall im Labor verstreut herum. Wobei das „Labor“ mit Monitoren, Computern, Kabeln, Schläuchen und allerhand Schraubenziehern aussieht wie eine Mischung aus Rechenzentrum und Fahrradwerkstatt. Myon wird von Programmierern, Elektronikern, Mechanikern untersucht. Einer testet Algorithmen, die das Sehen, Sprechen und Hören verbessern. Ein anderer zieht Schrauben im Arm fester, die sich im Laufe der Zeit gelockert haben. Wieder ein anderer probiert mit Beinen und Rumpf aus, wie rutschfest die Fußsohlen des Roboters sind. Myon absolviert seinen regelmäßigen Check-up. Mittlerweile hat er 32 Prozessoren im ganzen Körper, vor einem Jahr waren es noch 28. Wenn er angeschaltet ist, leuchtet es aus den Achselhöhlen und den Kniekehlen blau. Blau heißt: gesund.
Es ist wie bei einem kleinen Kind: Hauptsache, gesund. Aber warum kann das Kind immer noch nicht laufen? „Noch ein paar Wochen“, schätzt Hild.
Im Labor probieren sie herum, in der Oper singen die Sänger in der Zwischenzeit andere Rollen, und die Regisseure überlegen, wie sie Myon wirkungsvoll in das Stück einbauen können. Im Regieteam macht sich Nervosität breit. Bis zur Premiere sind nur noch zwei Proben angesetzt, dann muss das Stück stehen, und es muss klar sein, welche Rolle Myon darin spielt. Das Regieteam weiß nicht, ob es Hilds Vorhersage trauen kann. Wird Myon wirklich laufen können? Wird er singen? Keiner kann wirklich sagen, was bei dem Roboter im vergangenen Jahr hängen geblieben ist.
Über Nacht ist es Herbst geworden, der Himmel hängt wie eine nasse, alte Decke über Berlin. Touristen und Menschen mit Aktentaschen eilen Unter den Linden vorbei, Headsets im Ohr. Viele haben eine Software auf ihrem Smartphone, die Kommandos entgegennimmt, der sie Nachrichten diktieren, die ihnen Fragen beantwortet. Sie sprechen mit ihr wie mit sich selbst, niemand schaut ihnen deshalb auf der Straße besorgt hinterher. Hinter den hohen Mauern der Komischen Oper sitzt Myon am Bühnenrand auf einem Stuhl, die Lämpchen an der Brust flimmern, aus den Knien leuchtet es blau. Katarina Morfa, die junge Sängerin, trägt heute Schwarz. Der Dirigent klimpert auf dem Klavier.
Die Probe beginnt, die Sänger und auch ein paar der Wissenschaftler sollen nacheinander zum Bühnenrand laufen und sich vorstellen. Alle hoffen, dass diesmal auch Myon den Weg über die Bühne schafft. Bei einem Versuch im Labor hat es geklappt.
„Ich bin Stefan. Ich bin Informatiker und liebe den Wind.“
„Ich bin Katarina. Ich bin Sängerin und e echte kölsche Mädche.“
„Ich bin Manfred. Ich bin Forscher und mag elektronische Musik.“
Jetzt streckt einer der jungen Wissenschaftler die Arme nach Myon aus, hält ihn an den gummiartigen Fingern und hilft ihm, vom Stuhl aufzustehen. Auch das Aufstehen ist eine komplizierte Angelegenheit. Der Roboter muss sein Gewicht austarieren und sich gegen die Schwerkraft stemmen. Als Myon steht, hält ihn der junge Mann weiter fest. Er hat Angst, der Roboter würde sonst über das Mikrofonkabel stolpern, das am Boden festgeklebt ist. Es funktioniert: Der Roboter läuft, wacklig zwar, aber mit erstaunlicher Körperspannung. Er stützt sich auf die Arme, die ihn halten. Myon und der junge Mann wirken nun wie Tänzer beim Paartanz, die sich nur mit dem richtigen Maß an Grundspannung miteinander bewegen können. So läuft Myon federnd zur Rampe, ein Schritt, noch ein Schritt. Der Kopf wackelt hin und her, das Kinn nach oben gereckt. Als der Wissenschaftler die Gummifinger loslässt, bleibt Myon stehen, geht in die Knie. Dann steht er, mit breiten Beinen, vor dem Mikrofon.
Hild lächelt. Auch die Regisseure sehen endlich zufrieden aus. Die Szene, wie Myon an den Bühnenrand lief, war stark, lebendig, präsent, kraftvoll, sogar poetisch. So kann man Myon auf die Bühne bringen.
In seinem Jahr an der Komischen Oper hat Myon Fortschritte gemacht. Von außen mögen sie winzig wirken, aber für einen selbstlernenden Roboter sind sie enorm. Verglichen mit einem Menschen, steht er immer noch auf dem Niveau eines Kleinkindes, und aus der Sicht eines Erwachsenen kann ein Kleinkind fast nichts. Aber wie ein neuer Mensch hat auch der Roboter das Potenzial zu mehr, glaubt Manfred Hild, sein Entwickler. So wie ein Kind zu einem Mozart werden kann, auch wenn es am Anfang seines Lebens noch nicht Klavier spielt.
Wahrscheinlich wird Myon kein zweiter Mozart werden, und es wäre schon ein Wunder, wenn er die durchschnittliche Intelligenz eines Menschen erreichen würde. Die Geschichte von Myon lehrt eine Menge darüber, wie komplex Roboter sind. Vielleicht lehrt sie aber noch mehr darüber, wie unnachahmbar komplex Menschen sind. Bis Myon so weit ist, in den Pausen mit den anderen Ensemblemitgliedern einen Plausch zu halten, dürften mindestens noch Jahre vergehen. Eher wird er es niemals lernen.
Gelernt hat er aber: zu hören und zu sehen. Beim Laufen hat er den Durchbruch geschafft. Was zur Opernkarriere noch fehlt, ist das Singen.
Auf der Bühne singen die Sopranistin Katarina Morfa und der Tenor vor. Oktaven, Tonleitern, Akkorde, kurze Melodien.
Mit seinem Kameraauge und den Mikrofonohren nimmt Myon wahr, was vor ihm passiert: Eine Person singt mit hoher Stimme. Die Stimme wird höher. Eine zweite Person schnippt mit den Fingern. Sie singt auch. Sie hat eine tiefere Stimme.
Myon steht und wiegt die Hüfte. Nach einer gefühlten Ewigkeit fängt er an, seine Arme zum Gesang zu bewegen. Er hebt sie höher und lässt sie tiefer sinken, je nach Tonhöhe.
Auf einmal hört man eine Stimme wie aus einem Blecheimer.
„Fertig!“
Das war Myon. Die Sänger setzen ab, verdutzt. Hild versucht, einen Witz zu machen. Aber auch er wird unterbrochen. Es ist Myons Blechstimme, die eine dünne Melodie anstimmt, schief und geisterhaft künstlich.
Myon hat verarbeitet, was er vorher gehört hat. Jetzt gibt er es auf seine Art wieder: Vokale und Laute, die denen der Sänger ähneln. Myon hat sie nicht aufgenommen und abgespielt, sondern nachgeahmt.
Die Sänger starren ihn mit Zitronengesichtern an. „Der lernt auch nicht schneller als ich“, brummt der Tenor. Aber Hild freut sich. Sein Myon hat zum ersten Mal gesungen. Opernreif klang er zwar noch nicht. Aber darauf kommt es ihm nicht an. Er kann ja einfach eine bessere Soundkarte einbauen.
Erschienen in DIE ZEIT, Do 22.01.2015, Seite 15