Süddeutsche Zeitung, 3. März 2007.
Es gibt zwei Extreme von Künstlerpersönlichkeiten. Die einen zählen zum Phänomen des Eintags-Genies, dem in jungen Jahren ein einziger Hit aus der Feder fließt und das danach nie wieder Vergleichbares zustande bringt. Beim anderen Extrem schäumt die Gestaltungskraft, ein Werk folgt dem anderen. Und dann hinterlassen sie Großes unvollendet. Der Tod beendet jäh den Schaffensprozess. Mozarts „Requiem“ ist das beste Beispiel. Bis heute fantasiert die Nachwelt, was Mozart noch alles an Übermenschlichem hätte schreiben können.
Irgendwo zwischen diesen Extremen steht Axl Rose, Jugendtraum vieler heute 30-Jähriger, dessen Unberechenbarkeit an Faszination verlor und sich inzwischen in einen Running Gag der Rockszene verwandelt hat. Seit mehr als einem Jahrzehnt schon verschiebt sich das Erscheinungsdatum seiner neuen Platte „Chinese Democracy“ immer wieder; laut Guns’n’Roses-Website ist es das teuerste Album aller Zeiten. Am 6. März, so hofften die Fans, hätte es mal wieder so weit sein sollen. Aber Herrn Rose plagt etwas, er zögert. Die Veröffentlichung ist bis auf Weiteres verschoben. Lediglich Divenhaftigkeit? Nein. Dahinter steckt mehr: ein weiterer Künstler-Typus, zwischen den Extremen, der Perfektionist. Axl Rose und seine Band wollen vermutlich Großes, denn sie feilen noch immer an der Mischung. Der Perfektionist ist vom Scheitern bedroht. Er erstrebt einen Platz im Olymp. Immer wieder hadert er, seufzt tief und zerknüllt seine Skizzen. In der Kulturgeschichte tummeln sich viele solche Typen, die, von Versagensängsten zerfressen, letztlich kaum etwas fertig bringen. In Balzacs Erzählung „Das unbekannte Meisterwerk“ zum Beispiel. Ein genialer Künstler will das vollkommene Gemälde einer Frau schaffen. Er zögert und zögert. Schließlich zeigt er seinem Malerfreund ein Gewirr und Geschmier von Farben und Linien, nicht auszuhalten. Nur ein perfekt geformter Damenfuß ist in einer Ecke der Leinwand zu sehen, der in der Vorstellung des Betrachters einen köstlichen Frauenkörper entstehen lässt. Balzacs Maler hat ein imaginäres Meisterwerk geschaffen. Vielleicht sollte auch Axl Rose einfach weiter zögern, vielleicht sogar auf ewig. So wird sein lang ersehntes Album zum Meisterwerk, zumindest in der Fantasie seiner Fans. Und seine Schaffenskraft, die sogar Übermenschliches hätte hervorbringen können, bleibt der Nachwelt ein Mythos. Selbst im Scheitern kann Größe liegen.
Das Geisterwerk. Das neue Album von Axl Rose wird immer wahrscheinlicher